TEXT

The texts by NAVID KERMANI (Peace Prize of the German Book Trade)  are to be declaimed in between the different sets of the composition.

Die Texte des Friedenspreisträgers des Deutschen Buchhandels, NAVID KERMANI, ergänzen den Text des klassischen Messordinariums, indem sie zwischen den einzelnen Sätzen der MISSA von einem oder mehreren Sprechern vorgetragen werden.

 

AUF DEM FLÜCHTLINGSTRECK DURCH EUROPA

von Navid Kermani

„Natürlich fordert es Deutschland, innerhalb eines Jahres eine Million Flüchtlinge aufzunehmen, überfordert es Deutschland an vielen Stellen auch. In den wohlhabenden Vierteln und Kommunen mag die Hilfe leichter fallen, aber wo man jetzt schon unter Arbeitslosigkeit und sozialen Konflikten ächzt, darf man ruhig auch stöhnen, wenn noch mehr Mittellose zu versorgen, noch mehr Fremde einzugemeinden sind. Allerdings muss man sich auch klarmachen, was geschehen würde oder mancherorts geschieht, wenn man sich zu Härte und Abschottung entschließt. Das eigene Herz würde verhärten und die Offenheit verkümmern, die Europa als Projekt und Folge der Aufklärung ausmacht. Man würde nicht mehr nur vor den Grenzen Europas, sondern unmittelbar an den Grenzen Deutschlands ein gewaltiges Elend sehen, ohne die Hand auszustrecken. Dafür jedoch muss man den Fremden dämonisieren, muß ihm sein Schicksal selbst zuschreiben – seiner Kultur, Rasse oder Religion – , ihn in Büchern, Medien und schließlich sogar auf Plakatwänden herabsetzen, immer nur das Schlechte an ihm hervorheben und ihn so zum Barbaren machen, um sein Leid nicht an sich heranzulassen. Wollen wir Europa, oder wollen wir es nicht?

  Es ist kein Zufall, dass es das Bild eines ertrunkenen Kindes war, das wie kein anderes ins allgemeine Bewusstsein drang und dem Mitgefühl Bahn brach. Kinder entziehen sich den Mechanismen öffentlicher Verachtung, weil sie für ihr Schicksal kaum selbst verantwortlich gemacht werden können. Man muß sein Herz schon gewaltig zugeschnürt haben, um sich eines Kindes nicht zu erbarmen. Es geht, aber es geht nicht, ohne die eigene Persönlichkeit zu verstümmeln.“

(Navid Kermani)